Wandlung

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Wandlung

Die Sonne brennt auf dem trockenen Granit der Felsen.
Mittag war schon Stunden vorüber. Unten im Tal bewegte sich ein kleiner dunkler Punkt forsch bergan.
Dort war der Weg noch grünumsäumt, mit kleinen Blumen und wilden Kräutern. Grasbüschel hielten den Schotter zusammen.
Hier oben, am Fuße der Gipfelkette war nichts mehr an Vegetation zu entdecken, außer ein paar Moosen und vereinzelt, spärlich verstreuten Fingern vertrockneten Grases.
Das schwarze, winzige Etwas wurde zügig größer, schob sich stetig auf den Serpentinen des Hanges voran; Kurve für Kurve. Ab und zu blieb der Schemen einer Figur am Wegesrand stehen und betrachtete die Landschaft, hob einen Stein auf oder pflückte einen Halm.
Der Gang des Menschen da unten schien sicher und fest. Unmerklich aber, nahm die Kraft der Schritte ab, als ob sich mit der schon überwundenen Höhe Schwere auf seinen Körper legte.
Jetzt machte er eine kurze Rast, nahm den kleinen Wanderrucksack vom Rücken, zog die dunkle Jacke aus und setzte sich auf einen Findling. Kaum hatte er einige Bissen gegessen und einen Schluck aus der Feldflasche getan, stapfte er frisch gestärkt weiter.
Die letzten Biegungen bereiteten dem Mann sichtliche Schwierigkeiten. Er stützte sich zeitweise an die Wand und atmete tief in sich hinein. Als er aus dem allerletzten Bogen auf die weite Plattform zubog, sah man einen Stock in seiner Rechten, der für das Fortkommen nun auch gebraucht wurde.
Die letzten Meter begann ein leichtes Keuchen aus ihm herauszustoßen und hinter dem weißen Bart verzerrte sich das Gesicht ein wenig.
Am vorderen Rand der Plattform, der über den felsigen Abgrund wie eine Himmelszunge hinausragte, machte der alte Mann Halt, sog die Luft, sichtlich ruhiger werdend durch die Nase und blickte hinunter in das Tal – den Blick, der eben noch unten einen kleinen dunklen Punkt erspähte.
Dann ging ein Ruck durch die Gestalt. Er ließ seinen Stock fallen, drehte sich um und ging auf die große Grotte zu, die sich unter dem Felsmassiv der Großen Berge auftat. Das Portal war riesig. Wie die Silhouette eines Kopfes fraß sich das Schwarz der Höhle dahinter aus dem Stein.
Mannigfaltige Formen wanden sich in den grauen Felswänden. Die Strukturen, die Wind und Wetter, Wasser und Erosion in das Gesicht der Steine gearbeitet hatten, malten ungewohnt pittoreske Bilder; Wellen, Wälder, Welten von Vorsprüngen, Rissen, Wölbungen und Farben waren darin.
Nach einigen hundert Schritten zog sich ein Felsvorhang vor das Tageslicht, das sich durch die Windungen der Gänge bis hier hin schlich. Der alte Mann zündete eine Kerze an, holte einen steifkrempeligen Hut aus dem Rucksack, steckte sich das Licht an den Halter am vorderen Rand und ging zielstrebig weiter. So wie er sich in der kerzenerleuchteten Dunkelheit bewegte, Seitenwege ausschlug, von Zeit zu Zeit den kalten Stein befühlte, war er gut mit dem Inneren der Höhle bekannt.
Die Kurven verteilten sich zigfach in alle Richtungen. Auch das Oben und Unten war im Schein der Leuchte zu erkennen. Die Sicherheit des Schrittes aber verließ den Mann mehr und mehr. Nicht Schwäche bemächtigte sich seiner, doch zeigten sein tastender Fuß und sein wendender Blick die dem Suchenden eigene Unschlüssigkeit. Es war, als suche er in altbekannten Bildern nach der Gewissheit des Augenblicks, als wäre der uralte Stein Wegzehrung für das Hier und Jetzt.
Mitten in der Bewegung straffte sich plötzlich sein Körper, als er in einem niedrigen Seitengang etwas lange verlorenes wahrnahm.
In dem hohen Dunkel, das sich hinter dem Druchgang auftat, stieß er auf eine Wasserader. Als er die Bucht erreichte erspähte er an ihrem anderen Ende einen schlichten kleinen See. Mit neugewonnener Kraft ging er um das Wasser herum und stieg am jenseitigen Ufer eine steile, kantige Wand hinauf, an deren oberen Ende sich ein Grat von beinahe 2 Schritt Breite unter der Kuppel des Raumes auftat. Dorthin setzte er sich und thronte so wie auf einem fliegenden Teppich über dem See.
Alle Schwere hatte sein Gesicht verlassen, doch war leise Anspannung in seinen Zügen. Nachdem er das Licht mit einem Hauch löschte, begann der alte Mann zu singen.
Seine Stimme war klar und fest. In der Melodie lag etwas Klagendes. Auf und ab, hoch und tief hallte sie an den Wänden, die den See einrahmten wider. Bald wurden die Töne lauter, intensiver aber die Melodie verlor langsam an Virtuosität. Der Mund, der die Töne formte, öffnete sich jetzt nur noch einen Spalt.
Kaum daß die Töne in den Ritzen des Steins verklingen konnten, hatte die Nase schon neue Luft in die Lungen gelassen und ohne Übergang schwang sich der Ton erneut nach oben, um sich in den Windungen der Grotte zu verirren.
Jetzt bewegten sich die Barthaare nicht mehr, kein auf und ab des Brustkastens, der Mund war geschlossen. Nur der Ton, von der Luftsäule durch die Stimmbänder geboren, floss durch die Nase nach draußen.
Er wurde merklich leiser, verlor seine Kraft aber nur dort. Überall war er nun und ließ den zerbrechlichen Körper in seiner Gänze vibrieren. Der Atem des Sängers ging tief in den Bauch und schneller als zuvor. Der Ton verschwand mehr und mehr in der aufkommenden Schwingung.
Hätte man die Hand an den Fels gelegt, man würde ihn nun dort fühlen, lauter und stärker als er zu hören war.
Die träge Oberfläche des Sees beginnt sich leicht zu kräuseln und schnell schwappen winzig kleine Wellen an die Uferränder. Der Kopf des Tongebers neigt sich leicht nach vorn, die offenen Augen weisen auf die Mitte des Wassers.
Bald schon stieben die Wellen von dort nach außen. Der Ton ist kaum noch zu hören und doch arbeitet er starrer als je zuvor an dem Aufbau der Kraft. Die Wellen wachsen weiter heran zu drängenden Stößen gegen den Fels. Wuchtiger, mächtiger drückt das Wasser in alle Richtungen.
Der Atem des Mannes rast unhörbar, der Körper wiegt mit auf den gewaltigen WellenTürmen, die mehr und mehr an der Feste des Steins kratzen. Es brodelt das Wasser und stiebt wie eine fortwährende Folge von Hammerschlägen nach außen. Als würde der Mond persönlich in der Halle stehen, donnert Wellenschlag auf Wellenschlag gegen den Fels.
Der Mann, ganz Ton, der Ton ganz Bewegung, die Bewegung ganz Wasser, das Wasser gefüllt mit Kraft und doch wettert die Wellenflut ohnmächtig gegen die Kraft, die dagegensteht.
Doch dann plötzlich, endlich, ohne ein Zeichen der Schwäche, gewaltigen Krachs, brechen die Wände auf wie kalbendes Gletschereis, sacken herab in das schäumende Wasser, versinken darin, machen Platz für das nachdrängende Gestein. Schier unergründlich ist der See, allen Stein in sich aufnehmend; die Wände so dick, so massig, so unendlich, daß es Stunden, Tage, Jahre schien, bis daß es endete.

Das Tal hörte und spürte von alldem nichts.
Der Tag ging ruhig vorüber und die wenigen Höfe in der Nähe hatten genug mit sich selbst zu tun.
Als die Dämmerung einsetzte, nachdem sich die Sonne hinter den Gipfeln der Großen Berge verkrochen hatte, sah man oben am Hang einen kleinen dunklen Punkt, der abwärts schritt, dem schlängelnden, graslosen Schotterweg folgend.
Als er die ersten Gräser und geduckten Büsche erreicht, sieht man, daß die Gestalt einen kleinen Rucksack trägt; er setzt der Silhouette des Mannes in der aufkommenden Dunkelheit einen Buckel auf den Rücken.
Als die Schritte des Menschen zu hören sind, ist es zu dunkel ihn zu erkennen. Der Mann geht ohne Gruß vorüber.

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