ausgeliefert

Die Wand

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Ausgeliefert

Die Wand war kahl, beigegelb, lindgelb, hellgelb, sowas in der Art.
Er sah das schemenhaft aus den verquollenen Augen. Es brauchte eine Zeit bis er realisierte, daß das, was er da sah, eine Wand war.
Diese ebene Fläche war nicht eben. Die leichte Körnung, auf der die Farbe lag und ein ebenfalls gelb angestrichener Nagel, der am oberen rechten Rand in der Wand steckte, brachte ihn schließlich drauf.
Die Wand war verputzt und mit leicht beschmutztem, seichtem Gelb gestrichen. Er konnte den Rand der Wand nicht einsehen, da war nichts als diese blassgelbe Wand.
Die Augen ließen sich nicht heben und senken; zur Seite blicken war ihm nicht möglich. Die Augenlider hatte er bewegt ? Er hatte die Augen geöffnet, denn er sah die Wand. Also mußte er sie auch schließen könen, er versuchte es. Schwarz. Gelb. Schwarz. Gelb. Gelb. Wand.
Wenn er sich konzentrierte und seine Aufmerksamkeit nach unten lenkte, kam ihm eine Idee von seiner Nase. Er schloß das linke Lid und die Idee bekam Konturen. Er sah sich bestätigt. Die Nase war da. Er konnte die linke und die rechte Seite seiner Nase schemenhaft erkennen und wenn er beide Augen offen hielt blieb die Idee der Nase in seinem Blickfeld.
Ihm kam der Gedanke, in welcher Beziehung er wohl zu der Wand stand. Oder lag er und die Wand war eine Decke ? Saß er auf einem Stuhl oder lag er auf einer Schräge oder so, daß sein Kopf, auf einem Kissen gebettet oder auf einem Klotz abgelegt, es ihm ermöglichte, die Wand anzusehen ?
Er konnte sich nicht regen, um der Lösung näherzukommen. Sein Körper sandte ihm keine Signale, die ihm ein Gefühl vermitteln konnten.
So suchte er das Bild, das ihm da vor Augen stand nach weiteren Indizien ab. Er ließ seine Aufmerksamkeit jeden einzelnen Quadratzentimeter der Fläche betrachten. Er tastete sich in seinem Kopf durch das sanfte Gelb. Da war nichts weiter. Der Nagel, die kleinen Erhebungen des auf die Wand aufgetragenen Materials, die verschwanden, wenn er eines seiner Augen schloß, seine durchschimmernde Nase, das wars.
Wo waren seine Hände, der Rest von...ihm. Er suchte, wußte daß er da war, spürte das Leben in sich, ohne es genauer einkreisen zu können. Alles was er glaubte wahrzunehmen spürte er nicht. Es war eher eine Erinnerung, die in ihm lebte und die er in seine Gedanken hervorkramte. Er konnte die Schwere seiner Arme, seines Rumpfes, seiner Beine, von der er wußte wie sie sich anfühlte nicht ausmachen, doch es war alles da. Er wußte, daß er atmete, konnte aber selber nichts dazu tun. Die Schwerkraft lag auf ihm wie ein tonnenschwerer Wattebausch, den er nicht fühlen konnte, weil außer seinen Augen und deren Lidern keine Meldung in seinem Gehirn ankam. Als hätte sich das vegetative Innenleben seines Körpers, das stille funktionieren seiner inneren Organe auf die Haut, den Bewegungsapparat, auf seine ganze Oberfläche ausgebreitet. Er schloß die Augen wieder.
Wie war er hier hereingeraten ?
Was war geschehen ?
Warum lag, saß oder stand er hier vor dieser Wand?
- Nein – Er stand nicht. So in sich ruhend, daß er, ohne sich seines Gleichgewichts zu versichern, ohne Ausgleichsbewegungen, ohne Stütze einfach so unüberlegt gewiss dastehen konnte, war er nie gewesen – Moment, war er gewesen ?
Er mußte gewesen sein, sonst hätte er nicht darüber nachdenken können, wie es gewesen war und darüber was ihm jetzt fehlte und das das, was da am unteren Bildrand so durchsichtig schimmerte seine Nase war.
Er unterbrach seine Gedanken, er spürte aufkommende Wärme auf seinen Augenlidern, öffnete die Augen.
Das Licht hatte sich verändert, das Gelb leuchtete von innen. Es lag blass noch, aber prall und satt auf der Wand. Es strahlte ihn an. Plötzlich streifte etwas seine Augen.
Ein Wind, dachte er, ein Luftzug, ein Hauch treibender, getriebener Moleküle, der über den feuchten Film auf seinen Pupillen streichelte – er war draußen, unter freiem Himmel.
Die Sonnenstrahlen waren, von einer fortgezogenen Wolke befreit, auf die Wand getroffen, von ihr zurückgeprallt und brachten ihm Wärme und Licht.
Er wollte jauchzen vor Freude über diese Erkenntnis. Er hatte mehr um sich als das Gelb der Wand, da war Welt um ihn herum. Er spürte, wie seine Augen sich weiteten, dem Um-ihn-herum entgegen – aber das war schon alles was er zustande brachte; kein Laut, kein schnellerer Atem, kein Puls. Resigniert schloß der die Augen wieder.
Hier im Schwarz, das durchzogen war von undefinierten Sprenkseln, wirren Formen, wandernden Lichtpunkten und jetzt, da die Sonne schien, von rötlichem Schimmern, in diesem bewegten Dunkel war ihm bewußter, daß er lebte, als vor dem Bild der jetzt strahlend gelben Wand.
Er suchte nach Erinnerungen, suchte den Nebel, der in seinem Kopf waberte, beiseite zu schieben – Namen, Orte – suchte die Tiefe im Nebel zu entdecken und zu durchdringen – Empfindungen, Geschichten, Worte – Aber immer wenn ein Detail aus der Tiefe aufstieg und begann Konturen anzunehmen schob sich rötlich - schwarzer Dunst davor und verbarg, ließ verschwimmen, verflüchtigen.
Ihm fiel auf, daß dieses diffus Dunkle immer von rechts in seine Gedanken strömte. Er versuchte es aufzuhalten aber alles was er sich festhalten wollte löste sich in dem schwarzroten Waber unweigerlich auf. Er gab auf – öffnete die Augen und stockte.
Die Wand hatte ein Loch. Auf der rechten Seite klaffte ein schwarzer, rechteckiger Balken und teilte die Hälfte der rechten Seite. Er stellte die Schärfe seiner Augen auf Weitsicht, um in der Lücke etwas anderes zu erblicken, ein Dahinter auszumachen. Da war aber nichts. Es gab kein Dahinter.
Die kleinen Pöckchen, die die Wand zur Wand machten waren auch auf dem Schwarz zu erkennen. Er focussierte wieder die ganze Wand. Jetzt nahm er den Schatten wahr, der da geometrisch geformt als Rechteck auf der Wand lag. Und er erkannte, daß sich der Schatten bewegte. Langsam, sehr langsam schob er sich weiter nach links. Er bewegte sich. Klar, die Sonne wanderte, von Ost über Süd, nach West.
Aber wie konnte das sein ? Er war zweifellos mit dem Rücken zur Sonne positioniert; die Sonne wanderte also zu seiner Linken nach Westen hin. Dann aber müßte der Schatten nach rechts wandern, nicht von dort kommen. Wo war er ? Er war zwar noch nie auf der Südhalbkugel gewesen aber die Edre drehte sich auch dort in die gleiche Richtung. Wo war er ?
Er starrte ungläubig auf den kriechenden Schatten während er überlegte, womit er sein Erkenntnisinteresse weiter füttern könnte. Vielleicht ergab sich ja irgendwann ein Bild an der Wand, gab der Schatten irgendwann preis, was die Sonne da beleuchtete. Vielleicht brauchte er nur zu warten, sich dreinzugeben in diese sonderbare Situation, dann würde vielleicht.....
Ein Gedanke schoß vor sein inneres Auge, er schloß die Lider.
" Es geht im Leben nicht darum zu warten, bis das Unwetter vorbeigezogen ist. Es geht darum, zu lernen, im Regen zu tanzen."
Irgendwo hatte er diesen Sinnspruch gelesen oder gehört. Er wußte nicht mehr wo und wer ihn gesagt hatte; aber das passte. Er hatte nicht viel, aber er konnte damit tanzen.
Er begann, die Lider auf und zu zu klappen, immer wieder Er versuchte mit ihnen an den Grenzen seiner Sinneswahrnehmung zu reiben, wie man einen Finger reibt und walgt, der eingeschlafen ist und den man zurück in die Spürbarkeit holen will.
Einige Minuten hielt er durch, versuchte Tempowechsel, große und kleine Amplituden, versuchte seitlich auszubrechen, die Beweglichkeit der Augen mit einzubeziehen. Irgendwann wurde ihm schwarz vor Augen, er schloß die Lider um zur Ruhe zu kommen.
Als er sie wieder öffnete war der Schatten weitergewandert. Immer noch zog er seine Bahn in die falsche Richtung. Am Rand tauchte ein weiteres Rechteck auf, es stand senkrecht und war wesentlich höher und breiter als das erste.
Im Hintergrund hörte er ein ein fernes Grollen.
Er riss die Augen auf, was war das ? Er hatte etwas gehört ?
Sofort flatterte er wieder mit den Lidern. Diesmal in Interwallen. Er zählte bis 20, stoppte, zählte bis 20, fing wieder an, usw..
In den Pausen lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den Ort, wo er glaubte, daß´sich seine Ohren befinden müßten.
Nach kurzer Zeit war er wieder derart erschöpft, daß er die Augen schließen mußte. Er horchte, oder besser, er tat das, was er glaubte dem Horchen am nächsten zu kommen. Und plötzlich, als hätte jemand das Radio angeschaltet hörte er.
Wind, Knattern, das aprupt stoppte, ein Knall, wie eine ferne Detonation. Und fast gleichzeitig strömten unzählige Sinneseindrücke auf ihn ein.
Ein nie geahnter Schmerz durchzuckte ihn. Er riss die Augen auf, sah das Kreuz an der Wand, schwarz auf gelbem Grund. Die Konturen seiner selbst, die seitlich über das senkrechte Rechteck hinaus ihm plötzlich klar machten, wo er sich befand. Sie hatten ihn ans Kreuz genagelt.
Sein Gleichgewichtssinn meldete ihm unmittelbar darauf, warum der Schatten in die falsche Richtung gewandert war. Er stand Kopf, die Füße waren zudem oben am Balken derart festgezurrt, daß die Knöchel gebrochen sein mußten. Seine Arme, seine Hüfte, ...
Er sah auf die Wand, sah das flache gelbe Haus zu der sie gehörte und er schrie, schrie den Schmerz aus sich heraus, schrie ihn in das Um-ihn-herum, das er jetzt erkannte – dann hörte er ein lautes, näher kommendes Pfeifen. Dann zerbarst die blassgelbe Wand vor seinen Augen.
Schwarz.

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