Neujahrsmorgen

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Neujahrsmorgen

Die Ampel sprang auf grün, als sein Gähnen noch am Unterkiefer zerrte.
Er brauchte ein paar Augenblicke bis er das grüne Licht realisierte, war dann aber schnell genug mit dem Fuß auf dem Gaspedal, um der "ErstmalHupenMeute" hinter sich, noch vor der zwangsläufigen und lästigen Lebensäußerung davonzufahren.
Die Werbepause im Radio wurde gerade von den 9.00 Uhr Verkehrsmeldungen abgelöst, als er auf den Bahnhofsvorplatz einbog.
Noch bevor er sich in die Warteschlange auf der Extraspur einreihen konnte rannte eine Frau in braunem Kostüm auf sein Taxi zu. Sie riß die Beifahrertür auf, nahm Platz und wuchtete eine große, schwere Handtasche auf ihren Schoß.
Seine Überraschung hielt sich in Grenzen; die Schicht in der Silvesternacht hatte für ihn erst um 5.00 morgens geendet und nach 3 Stunden Schlaf war er einfach noch nicht in der Lage etwas anderes als Müdigkeit zu empfinden.
Doch als er die Dame mit seinem Standardspruch nach dem Fahrtziel fragen wollte, griff sie so unvermitelt ans Armaturenbrett und drehte das Radio lauter, daß ihm dann doch ein erstauntes:
"Was zum...." entfuhr.
Statt einer Antwort legte die Frau blitzschnell den Finger an die Lippen und zischte ein strenges "Psst" in seine Richtung.
In die Stille rauschte die übliche Meldung von der A40 Bo Rtg.E:
8 km Stau, nach einem Unfall am Dreieck Essen Ost, 45 Minuten Zeitverlust. Die Frau lehnte sich mit einem Ruck zurück in die Lehne und sagte in dem schneidenden Ton einer Gouvernante:
"Genau da bringen sie mich hin! "
Für einen Moment war er hellwach. "Sie wollen in den Stau."
"Ganz recht"
"Aber.."
"Kein aber," sagte sie mit einer Bestimmheit, die keinen Widerspruch duldete, "sie bingen mich genau da hin und zwar ans Stauende".
Er zögerte mit einer Reaktion, wie eben an der Ampel, war aber diesmal nicht schnell genug, um ihren Zusatz, " und vergessen sie nicht ihre Uhr da anzustellen." zu verhindern.
Mit seinen müden, aber verblüfften Augen nahm er sie in Augenschein, suchte nach Anzeichen von Verwirrung, Demenz oder irgendwelchen Rauschmittelhinweisen. "Na los doch", war ihre brüske Antwort auf seine andauernde Langsamkeit.
Resigniert zuckte er mit den Schultern, stellte den Taxometer ein, gab vorsichtig Gas, rollte an den z.T. zeternden Kollegen vorbei und nahm den Weg zur Autobahn.
Als er sich dort in den noch fließenden Verkehr einfädelte fand er endlich den Mut, die Stille zu vertreiben und seiner Neugier Raum zu geben:
"Auch auf die Gefahr hin, ihnen zu nahe zu treten, aber warum.... warum wollen sie ausgerechnet in den längsten Stau des Tages ?"
Ein Blick traf ihn, den er nicht einordnen konnte – eine Mischung aus Verächtlichkeit, Ungeduld und schüchterner Frage, wie als ob sie sich nicht sicher war, ob sie ihm trauen konnte, oder besser, ob dieser abgewrackte Kerl da neben ihr, zu mehr zu gebrauchen war, als einen einfachen Transfer zu ihrem Ziel zu bewerkstelligen.
Er beschloß die möglichen Einwände zu ignorieren: "Ich meine, es gibt doch kaum eine bessere Möglichkeit sein Geld in einem Taxi zu verplempern als sehenden Auges dahin zu fahren, wo man garantiert nicht weiter kommt, oder ?"
Wieder traf ihn dieser seltsame Seitenblick. Dann wandte sie ihr Gesicht wieder nach vorn, stieß einen kleinen Seufzer aus und fragte nicht mehr ganz so forsch:
"Wollen sie das wirklich wissen ?"
Es klang aus ihrem Mund dennoch ein wenig provokant, fast unheilvoll, als wolle sie ihm schonend eine Möglichkeit geben, sich noch zurückzuziehen, die Sache aufzugeben und einen ganz normalen Tag zu verbringen.
Und tatsächlich ließ er sich Zeit mit einer Antwort. Er schmeckte der Frage hinter seiner Strin nach, roch an ihr, wägte ein potentielles Risiko ab.
Doch ihm fiel nichts ein, was ihn daran hindern sollte, was ihm in dieser Situation zum Nachteil gereichen würde, wenn er ihr zuhörte.

Er fuhr, sie zahlte, naja gleich stand er aber sie zahlte ja immer noch.
"Wie es aussieht, werden wir genug Zeit dafür haben", sagte er mit einem Fingerzeig auf die aufblinkenden Bremslichter vor ihnen.
300 Meter voraus wurde das Stauende mit rhythmisch aufleuchtenden Warnblinkern markiert.
"Hier also," seufzte die Dame ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.
"Also, ich wäre bereit, ihre Antwort zu hören, "sagte er nachdem er auf die mittlere Spur gewechselt, in den zweiten Gang zurückgeschaltet hatte und nun das Auto langsam hinter dem Vordermann zum Stehen brachte.
"Gut, " sagte sie und zog die Handtasche fester vor ihren Bauch.
"Da muß ich ein wenig ausholen, damit sie verstehen können."
Sie machte eine Pause, als erwarte sie einen Einwand. 17 Jahre Fahrpraxis mit mehr oder minder mitteilsamen Fahrgästen hatten ihn gelehrt, daß er nur zu warten brauchte – wenn sie sprechen wollten, dann taten sie es, irgendwann.
Ob er seine Bereitschaft zum Hören kund getan hatte oder nicht spielte dabei überhaupt keine Rolle. Er brauchte nur zu warten, dann entschied es sich von selbst oder besser, sie entschieden.
Die Dame hatte sich entschieden, nachdem sie ihn nocheinmal prüfend angesehen hatte.
"Ich heiße Judith," begann sie und streckte ihm die Rechte hin, die er zunächst verdattert zur Kenntnis nahm, dann aber seine Rechte in ihre legte, sanft zudrückte und "Johannes" sagte.
Er konzentrierte sich wieder auf die Bahn, denn gerade ging es ein paar Meter voran.
"Silvester," begann Judith und etwas veränderte sich.
Ihre forschen, aufrechten Bewegungen wurden weicher, ihr Atem nahm mehr Raum. Johannes hätte nicht sagen können, ob der Beginn ihrer Erklärung oder das Erreichen ihres Zieles der Ausgangspunkt für diese Entspannung war.
"Silvester, oder besser der Jahreswechsel, also die Silvesternacht...., Mitternacht, ja genau Mitternacht, diese Zäsur in der Zeit. Da lasse ich etwas hinter mir, da ist etwas vergangen, ich lasse es zurück, schon weil ich es ja gar nicht festhalten kann. Ich habe es verloren und doch kann ich es, gerade weil ich mir das bewusst mache, behalten, kann ich es zu meiner Erfahrung hinzufügen.
Silvester feiern wir das Vergehen der Zeit, das wir jede Sekunde in unserem Leben erfahren.
Wissen sie, in Japan z.B. feiern sie vor Mitternacht eine "Jahres-vergess-Feier", wo sich alle treffen, um das alte Jahr Revue passieren zu lassen.
Dann wird das eigene Haus gereinigt, um böse Geister und Erinnerungen daraus zu verscheuchen. Und die Glockenschläge zur Mitternacht zerstören, jeder einzelne, eine Sünde aus dem letzten Jahr.
In China werden zur Mitternacht die Fenster geöffnet, um das neue Jahr hereinzulassen und das Haus wird mit Bambuszweigen ausgefegt, also die alten Geister werden hinausgejagt."
Sie machte eine Pause. Johannes legte versonnen den ersten Gang ein und rollte vorsichtig in eine Lücke auf der rechten Spur, die ein wenig schneller vorankam.
"So wird ein Neuanfang möglich, ich lasse das durchlebte, alte Jahr hinter mir; freudig, weil es endlich vorbei ist, wehmütig, weil so viel schönes dabei war – egal, ich mache mir bewusst, daß es vorbei ist und mache mich so für Neues bereit, entfache meine Neugier darauf, stärke meine Lebensgeister für das Kommende, für das Unbekannte."
In die folgende Stille hinein konnte Johannes sich nicht mehr lassen: "So hab ich das noch gar nicht gesehen, aber wenn sie das jetzt so sagen...... da hab ich ja letzte Nacht eine Menge verpasst."
Ausdruckslos, weil selber tief in Gedanken, sah sie ihn an und hörte zu. "Wissen sie, ich bin kreuz und quer durch die Nacht gefahren, habe vor allem betrunkene Leute aufgesammelt und in die entlegensten Winkel der Stadt gebracht, da hatte ich keinen Kopf für einen Neuanfang."
Jetzt wurde ihr Blick wieder prüfend, wie vorhin und ihre Forschheit kehrte zurück.
"Tun sie mir einen Gefallen ?" fragte sie mit ihrer Gouvernantenstimme.
"Wenn ich kann ?"
"Machen Sie die Warnblinkanlage an und fahren Sie auf den Seitenstreifen."
"Aber..."
"Kein aber, fahren sie ein Stück weiter an den Autos vorbei, tun Sie so, als hätten Sie Probleme mit der Zündung oder so und dann halten sie an einer Stelle an, wo der Krankenwagen noch vorbeikommt, na los."
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und er meinte sowas wie Vorfreude auszumachen.
Er tat wie ihm geheißen und ließ den Fuß mit dem Gaspedal immer wieder locker, so daß das Auto unrhythmisch ruckelte. Wenn sie ein Auto in der Warteschlange langsam überholten, fuchtelte er verzweifelnd mit den Armen und entschuldigte sich gestenreich bei den verdutzten Insassen der zurückbleibenden Fahrzeuge. Und er hatte Erfolg. Kein Nachahmer machte sich auf den Weg, die verbotene Überholspur mit ihnen zu teilen und nach hundert Metern fand er eine kleine Ausbuchtung im Asphalt, die ein gefahrloses Anhalten möglich machte.
"Genau hier, "sagte sie.
Entschlossen nahm sie die Handtasche, öffnete die Beifahrertür und stieg aus.
"He, ", setzte er an. Sie beugte sich zurück in die Kabine und unterbrach seine Vorbehalte. "Nun kommen Sie schon."
Er fügte sich, stieg mit einem Seufzer aus, ging zum Kofferraum, holte zwei Warnwesten heraus, schlüpfte in die eine und hielt ihr die andere hin.
"Das ist ja sogar noch besser", nahm sie die Weste freudig entgegen, "das ist ja quasi ein Festtagskleid" und zog sie ebenfalls über.
"Na dann mal los", sagte sie, öffnete die Handatsche und zog ein Piccolofläschchen Sekt, ein Glas und einen Kanonenschlag aus dem Futteral heraus und gab ihm alles in die überraschten Hände. Dann kippte sie die Handtasche auf den Kopf und leerte sie aus:
Diverse Zettel, Bonbonpapier, Lippenstift, Puderdöschen, Schminkpinsel, Kulis, Bleistifte, ein kleiner Schreibblock, ein Tampon, ein Feuerzeug, Kekse und Krümel, eine Rolle mit Frühstücksbeuteln, alles fiel holterdipolter hinunter auf das gefrorene Gras.
Dann hob sie den Schminkpinsel auf und fegte damit das Innere der Tasche sauber.
"Schenken Sie schon mal ein, Johannes", sagte sie unterdessen und schmunzelte ihn unverholen an.
"Wir feiern jetzt, die Vorfreude auf das neue Jahr. Sie haben es doch auch noch nicht getan." Er sah sich um, sah die sich stockend fortbewegende Staugemeinde:
"Hier ?"
"Wo, wenn nicht hier,"
sie nahm ihm den Piccolo aus der Hand und goß den Inhalt in das Glas. "Genau hier, wo all die Menschen in ihren Blechkisten Zeit liegen lassen, massenhaft Zeit. 45 Minuten pro Mensch. Wenn Sie alle Dreiviertelstunden, die hier verloren gehen zusammenzählen kommen Sie mit Leichtigkeit auf ein ganzes Jahr."
Er erwischte sich dabei, wie er anfing zu überschlagen, wieviele Menschen hier wohl ihre Zeit zu Grabe trugen und er mußte lächeln bei dem Gedanken.
"Ich habe gestern die Mitternacht verpasst. Ich hab den Jahresabschluß für meinen Chef gemacht und bin über den Kassenberichten eingeschlafen. Als ich das beim Aufwachen bemerkte, bin ich gleich zum nächsten Taxistand gelaufen..., den Rest kennen Sie ja."
Damit nahm sie ihm das Glas aus der Hand, nippte daran und gab es ihm mit auffordernder Geste zurück.
"Und hier, in diesem Meer der Zeit,... " sagte sie und hob das Feuerzeug vom Boden, "ist der beste Ort, um das nachzuholen,...." sie nahm ihm den Kanonenschlag aus der Linken und prostete ihm damit zu. Er nippte am Glas, "was wir in der letzten Nacht versäumt haben. Das alte Jahr auszutreiben,.." sie zündete die Zündschnur an, "und das neue mit einem lieben Menschen,..." jetzt schleuderte sie den Böller in die Böschung, " zu begrüßen."
Damit gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Bumm.
Seit diesem Neujahrsmorgen fährt Johannes, öfter mal in den Stau, um seine Ruhe zu finden,... natürlich nur in der Freizeit.

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