Auch eine Weihnachtsgeschichte

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The Listener (by John Berry)
First published in New World Writing #16 (1960)
Übersetzung Thos Renneberg 2021

Der Leuchtturmwärter
Es war einmal ein bescheidener, kleiner tschechischer Konzertgeiger namens Rudolf, der lebte in Schweden.
Einige seiner Freunde dachten, er sei nicht der beste Musiker, weil er unruhig war; andere hielten ihn für unruhig, weil er nicht der beste Musiker war.
Wie dem auch sei, er fand eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne groß in den Wettbewerb gehen zu müssen.
Er segelte mit seinem kleinen Boot ganz allein durch Skandinavien und gab Konzerte in kleinen Hafenstädten. Wenn er Begleiter fand, gut und schön; wenn nicht, spielte er Werke für unbegleitete Violine. Es geschah sogar ein paarmal, dass er ein Klavier so sehr herbeisehnte, daß er sich eines einbildete; dann spielte er ganze Sonaten für Violine und Klavier, ohne dass ein Klavier in Sicht war.
Eines Jahres segelte Rudolf bis nach Island hinaus und begann sich an der felsigen Küste von einer Stadt zur anderen vorzuarbeiten.
Es war ein hartes, widerspenstiges Land; aber die Menschen an diesen beschwerlichen Orten vergessen das Gesetz der Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden nicht – denn ihr Gott kann jederzeit beschließen, dass auch sie auf der Erde Fremde werden.
Die Zuhörerschaft war klein, und selbst wenn Rudolf wirklich erstklassig gewesen wäre, wären die Reaktionen auch nicht sehr überschwenglich gewesen. Von alters- her floss ihre Energie zuallererst in ernsthafte Arbeit.
Manchmal wurden sie vom örtlichen Schullehrer gesammelt, der sie an ihre Pflicht erinnerte, die Namen Beethoven und Bach und Mozart zu erinnern und vielleicht noch ein - zwei andere, deren Musik in diesen Teilen der Welt nicht viel zu hören war. Zu oft aber saßen die Leute stur da und beobachteten den lärmenden kleinen Geiger und gingen mit einem ernsten Erbauungsgefühl nach Hause.
Aber sie hatten bezahlt.
Als Rudolf eines Abends in der Adventszeit an einem spärlich besiedelten Ufer von einer Stadt zur nächsten segelte, wurde der Nordosten schwarz und bedrohlich.
Ein Sturm zog über Island hernieder. Rudolf umrundete eine trostlose, gefährliche Landzunge, und seine Karte sagte ihm, dass der nächste Hafen eine halbe Tagesreise entfernt war. Er begann sich Sorgen zu machen, als er weniger als eine Meile vor der Küste einen Leuchtturm auf einer winzigen Felseninsel sah. Am Fuße des Leuchtturms befand sich eine tiefe, enge Bucht, die von Klippen geschützt war.
Mit einiger Mühe fuhr er in der brodelnden See zwischen den Felsen ein und machte an einem Eisenring fest, der von der Klippe hing. Eine in den Fels gehauene Treppe führte zum Leuchtturm hinauf. Oben auf der Klippe stand ein Mann, der sich gegen die aufwirbelnden Wolken abzeichnete.
"Willkommen!" dröhnte die Stimme über das Rauschen der Wellen, die sich bereits über die Insel zu brechen begannen.
Es wurde schnell dunkel. Der Leuchtturmwärter führte seinen Gast die Wendeltreppe hinauf ins Wohnzimmer im dritten Stock und bereitete sich dann auf den Sturm vor.
Vor allem musste er sich um die große Lampe im Turm kümmern, die mit ihrem Leuchten die ganze Region beherrschte. Es war ein kontinuierliches Licht, das von Reflektoren verstärkt und in regelmäßigen Abständen von Rollläden verdunkelt wurde. Die Phase des Leuchtens war der der Dunkelheit gleich.
Der Leuchtturmwärter war ein hochgewachsener alter Mann mit einem ergrauten Bart, der ihm bis über die Brust reichte. Langsam, bedächtig, bärenhaft bewegte er sich ohne verschwendete Bewegung in der begrenzten Welt, deren Meister er war. Er sprach wenig, als hätten Worte im Vergleich zu den anderen Kräften, die sein Leben ausmachten, keine große Bedeutung.

Nach dem Abendessen mit Schwarzbrot und Salzkartoffeln, Hering, Käse und heißem Tee, das sie in der Küche über dem Wohnzimmer einnahmen, saßen die beiden Männer zusammen und betrachteten einander.
Über ihnen war der Wartungsraum, und darüber sprach die große Lampe majestätische, stumme Lichtbotschaften an die Schiffe auf hoher See.
Der Sturm hämmerte wie ein Rammbock gegen die Wände des Leuchtturms. Rudolf bot Tabak an und fühlte sich dabei plötzlich unbeholfen.
Der alte Mann lächelte ein wenig, als er das Angebot durch eine leichte Kopfbewegung ablehnte; es war, als ob er die Verwendung des Tabaks und die Notwendigkeit, ihn anzubieten, gut kannte und all das bejahte, aber – und auch er war hier ein wenig ungelenk - in sich ruhend schien er nichts zu brauchen, als das was ihn tagtäglich umgab. Und er saß da, sanft und nachdenklich, seine großen Arbeiterhände ruhten auf den ausgebreiteten Schenkeln.

Rudolf schien es, als wisse der Leuchtturmwärter alle Geräusche des Sturms und seine heftige Einwirkung auf den Leuchtturm zu deuten, er kannte sie so gut, dass er nicht daran denken musste; sie waren wie die unwillkürlichen Bewegungen seines eigenen Herzens und Blutes.
Ebenso war er unter der einfachen Höflichkeit, die ihn dazu brachte, seinem Gast auf bestimmte Weise zuzuhören und zu ihm zu sprechen, ruhig und geheimnisvoll und gleichsam so sicher, wie das Festland mit der kleinen Insel verbunden war und alle Inseln miteinander, unter dem Ozean.

Allmählich zog Rudolf die spärlichen Lebensdaten des alten Mannes aus dem Gespräch heraus: Er war vor dreiundachtzig Jahren in diesem Leuchtturm geboren worden, als sein Vater Leuchtturmwärter war. Seine Mutter – die einzige Frau, die er je gekannt hatte – hatte ihm das Bibellesen beigebracht, und er las sie täglich. Er hatte keine anderen Bücher.

Auch Rudolf hatte als Musiker nicht viel Zeit gehabt, viel zu lesen – allerdings hatte er in Städten gelebt. Er griff nach unten und nahm seine geliebte Geige aus dem Koffer.
"Was machen Sie damit, Sir?" fragte der alte Mann.
Eine Sekunde lang dachte Rudolf, sein Gastgeber mache vielleicht Witze; aber die Gelassenheit in den Zügen des anderen beruhigte ihn. Es war nicht einmal Neugier auf das Instrument: das ganze Interesse lag auf ihm, der Person, die seine "Arbeit" mit einschloss. In den meisten Fällen hätte Rudolf kaum glauben können, dass es jemanden geben könnte, der nicht wusste, was eine Geige ist; doch jetzt hatte er keine Lust zu lachen. Er fühlte sich klein und unzulänglich. „Ich mache – Musik damit“, stammelte er leise.
„Musik“, sagte der alte Mann schwerfällig. "Ich habe davon gehört. Aber ich habe noch nie Musik gesehen."
"Man sieht keine Musik. Man hört sie."
„Ah ja“, stimmte der Leuchtturmwärter gleichsam demütig zu. Auch dies lag in der Natur der Dinge, wobei alle Werke Wunder waren und alle Dinge ewig bekannt und in ihrer Vergänglichkeit ergreifend. Seine großen grauen Augen ruhten auf dem kleinen Geiger und verliehen ihm all die Bedeutung, zu der jeder Einzelne fähig ist.

Etwas in dem Sturm und an dem Leuchtturm und in dem Alten erbaute Rudolf, erfüllte ihn mit Mitleid und Liebe und einer Weite, die unendlich über ihn hinausging. Er wollte für den alten Mann ein Feuerwerk abbrennen und Sterne anzünden. Und mit dem Sturm als Begleiter stand er auf und begann zu spielen – die Kreutzer-Sonate von Beethoven.
Die Augenblicke vergingen, Augenblicke, die Tage bei der Erschaffung dieser Welt aus Feuer und Gestein waren; Abgründe und Höhen leidenschaftlichen Kampfes, die Idee der Ordnung und deren Auflösung in der Größe der menschlichen Macht. Nie zuvor hatte Rudolf so meisterhaft gespielt – oder mit einem solchen Begleiter. Wellen und Wind schlugen mit riesigen Händen auf den Turm. Stetig loderte das Leuchtfeuer in seinen sicheren Zyklen von Dunkelheit und Licht über ihnen.
Der letzte Ton verstummte und Rudolf senkte schwer atmend den Kopf auf die Brust. Das Meer brodelte mit einem Gebrüll wie von tausend Stimmen über der Insel.
Der alte Mann hatte während des Werkes regungslos dagesessen, die breiten, knorrigen Hände auf den Oberschenkeln ruhend, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und die Ohren gespitzt.
Er saß noch einige Zeit schweigend da. Dann blickte er auf, hob ruhig und besonnen die Hände und nickte.
„Ja“, sagte er. "Das ist wahr."

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